Dienstag, 16. Oktober 2012

Journalisten-Mythos Wahrheit? Gedanken zu Hans Hoff (1)

Eine Neubesinnung im deutschen Journalismus fordert Hans Hoff im Titelthema der aktuellen „journalist“-Ausgabe „Journalisten-Mythos: Nichts als die Wahrheit“. Sein in acht Imperative gefasstes Manifest – von Hört auf, so zu tun als ob (ihr die reine Wahrheit schreibt) bis Schweigt (über Massenveranstaltungen wie Parteitage und iPhone-Präsentationen) - spricht mir in vielem aus der Seele. Ich möchte es hier im Blog nach und nach diskutieren und weiterdenken, vor allem auch mit Blick auf den Wissenschaftsjournalismus.

Mut zur Kontroverse, ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Wahrhaftigkeit muss man dem Medienjournalisten Hans Hoff für seinen auch online verfügbaren Beitrag bescheinigen – womit er seinen selbst formulierten Idealen schon mal ziemlich nahe kommt und einen Text geschrieben hat, der jeden Journalisten interessieren dürfte. Wer es noch nicht getan hat: unbedingt lesen!

Hoffs Forderungen sind allerdings zum größten Teil weit weniger konsensfähig als die genannten drei Schlagworte, ja lesen sich stellenweise wie ein diametraler Gegenentwurf zum kleinen Journalismus-Einmaleins: Hoff nimmt handwerkliche Regeln aufs Korn, die in den meisten Redaktionen als sakrosankt und unhinterfragbar gelten dürften. Seiner Meinung gehörten sie freilich eher irgendwo zwischen obsolet und Selbstbetrug einsortiert.

Der erste Punkt ist gleich der kritischste


Nach einigen einleitenden Bemerkungen dazu, wie er selbst nach und nach anfing, den Status quo redaktioneller Praxis infrage zu stellen, geht Hoff mit Imperativ Nummer eins gleich in die Vollen. Zum Thema Wahrheit – „Ich habe gelernt, dass das, was Journalisten schreiben, die Wahrheit ist. Nichts als die Wahrheit.“ – fordert er: „Hört auf, so zu tun als ob!“ Das ist der wohl grundlegendste und weitreichendste seiner acht Punkte. Und der, den ich am kritischsten sehe.

Trotzdem hat Hoff auch hier zunächst mal recht. Etwa, wenn er erläutert:

„Niemand bildet die Realität ab. Alles, was ihr schreibt, ist mehr oder weniger künstlich. Jeden Tag sind Journalisten Zeugen von Ereignissen, die sie schon durch ihre pure Anwesenheit verändern. Jeden Tag verdichten und verkürzen Journalisten das, was sie erlebt haben. Jeden Tag lassen Journalisten ihr Erleben durch persönliche Vorliebefilter laufen, sie inszenieren die Wirklichkeit, sie spitzen zu und sie schwächen ab.“

Ja, Objektivität ist eine Illusion, unsere Wahrnehmung der Welt ist immer (auch) eine Konstruktion unseres Geistes, anders als durch die Brille unserer Vorerfahrungen und Vor-Urteile können wir die Dinge nicht wahrnehmen, und ein originalgetreues Abbild der Realität kann es nicht geben. Das dürfte seit längerem zum philosophischen kleinen Einmaleins gehören. Auch für Künstler ist es ein Gemeinplatz, dass es eine reine Abbildung der Wirklichkeit, die diese nicht interpretiert, idealisiert oder sonst wie verfremden würde, niemals geben kann.

Im Journalismus – oder jedenfalls in den hehren Maximen mit denen in der Journalistenausbildung hantiert wird – ist diese grundlegende Einsicht meiner Erfahrung noch nicht wirklich angekommen.

Wahrheit: Ein nicht nur journalistischer Mythos


Das Gleiche lässt sich übrigens über die (Natur-)Wissenschaft oder jedenfalls über deren populäre Darstellung sagen. Denn wo auch immer man sich verortet auf der Skala zwischen erkenntnistheoretischem Realismus und Konstruktivismus: Eine philosophisch halbwegs reflektierte Wissenschaft ist sich darüber im Klaren, dass sie immer nur ganz bestimmte Aspekte der Wirklichkeit untersuchen kann. Wissenschaft wird also niemals eine abschließende oder gar vollständige Beschreibung der Wirklichkeit hervorbringen können. (Realismus meint hier die Auffassung, dass die wissenschaftliche Beschreibung der Welt, etwa durch Atome, Kräfte etc., mit den realen Gegenständen in der Welt identisch ist. Der Konstruktivismus sieht alle Theorien und wissenschaftlichen Entitäten dagegen als Produkte des Geistes, die dieser sich im Laufe des Erkenntnisprozesses konstruiert – inwieweit dieses Konstruierte dann auch tatsächlich außerhalb der Köpfe existiert, bleibt offen.)

In der journalistisch-popularisierten Darstellung erscheinen wissenschaftliche Ergebnisse aber entgegen ihres grundsätzlich vorläufigen Charakters oft so, als wären sie unverrückbar in Stein gemeißelt. Und selbst wenn ein nicht immer linear fortschreitender Erkenntnisprozess transparent gemacht wird, in dem Modelle auch als unvollständig oder falsch erkannt und durch neue ersetzt werden können: Selbst dann schwingt doch in aller Regel ein völlig überhöhter Anspruch an die Wissenschaft mit. Statt die angemessene Bescheidenheit walten zu lassen, verkaufen manche Wissenschaftler und die allermeisten Wissenschaftsjournalisten die (empirische) Wissenschaft als totales Erklärungssystem, das irgendwann auch die letzte Frage unserer Existenz in quantifizier- und belegbarer Weise erschließen und außerhalb dessen es keine vernünftige Erkenntnis geben könne.

Diese Gleichsetzung von Vernunft und Wissenschaft ist, um es kurz zu machen, szientistische Ideologie: Sie steht konträr zu Anspruch und Methode der Wissenschaft, und vor allem genügt sie ihrem eigenen Anspruch nicht – denn die behauptete Gleichsetzung ist nun mal nicht wissenschaftlich überprüfbar.

Es gibt eine Wahrheit jenseits der Wissenschaften!


An Wissenschaftsjournalisten gewendet, möchte ich Hoffs Forderung also unterschreiben und noch erweitern: Hört auf, so zu tun, als ob ihr die reine Wahrheit schreibt – und tut auch nicht so, als ob die Wissenschaft der einzige und allumfassende Weg wäre, die Wahrheit über die Welt herauszufinden!

Was mir an Hans Hoffs erster Forderung, oder genauer an seinen Erläuterungen dazu, trotz allem problematisch erscheint, verrate ich im nächsten Teil dieser Serie. Aber schon vorher interessiert mich eure Meinung - nutzt also das Kommentarfeld oder meine neue Präsenz auf Google+.

Sonntag, 7. Oktober 2012

Nobelpreise: Statistik und Visualisierungen - oder: Wie Deutschland an Relevanz verloren hat

Anlässlich der bevorstehenden Nobelpreisverleihung habe ich mal die bisherigen Preise und Preisträger unter die Daten-Lupe genommen. Dabei wird unter anderem sichtbar, wie die Rolle Deutschlands im Lauf der Jahrzehnte immer marginaler wurde.

Grundlage für die folgenden Darstellungen ist die Datenbank unter nobel-prize-winners.findthedata.org, mit der ich allerdings zunächst einiges anstellen musste, um die gewünschten Daten zu extrahieren. (Die einzelnen Arbeitsschritte plane ich in einem weiteren Post noch darzustellen.)

Zunächst zur Anzahl der Preisträger pro Land seit den Anfängen des Nobelpreises. Dabei ist die Nationalität der Preisträger ausschlaggebend und solche mit doppelter Staatsangehörigkeit werden bei beiden Ländern voll gezählt: Das Schöne durch die direkte Einbettung aus Google Spreadsheets heraus ist, dass die Grafiken automatisch (leicht) interaktiv sind: Fährt man mit dem Mauszeiger über ein Land, erscheinen die relevanten Daten.

Es sticht sofort ins Auge, dass die USA weit vorn liegen. Bis 2011 waren und sind insgesamt 304 Nobelpreisträger Amerikaner. Auf Platz zwei liegt übrigens Deutschland (98), dicht gefolgt vom Vereinigten Königreich (97).

Bricht man die absolute Zahl der Preisträger auf die heutige Bevölkerungsgröße herunter, ergibt sich ein etwas gleichmäßigeres Bild. Die Zahlenwerte stehen hier für die Anzahl der Nobelpreisträger pro eine Million Einwohner: Der absolute Spitzenreiter ist dabei übrigens ein Land, das zu klein ist, um auf der Karte sichtbar zu sein: Saint Lucia, ein Inselstaat in der Karibik, kommt mit seinen zwei Preisträgern auf umgerechnet mehr als elf Nobelpreisträger pro Million Einwohner. Damit liegt es weit vor dem Zweitplatzierten in dieser Disziplin, Schweden mit knapp 3,3 Preisträgern pro Million Einwohner (Deutschland: 1,2).

Verschiebungen im Lauf der Zeit

Interessant ist nicht nur die geografische Verteilung, sondern auch die zeitliche Entwicklung. Fasst man die Zahl der Preisträger jahrzehnteweise zusammen, so ergibt sich für die relevantesten Länder eine interessante Entwicklung:

Hier wird schön sichtbar, wie Deutschland als Wissenschaftsnation im globalen Vergleich seine Spitzenposition im Lauf des 20. Jahrhunderts eingebüßt hat. Dass Nobelpreise dabei natürlich nur einer von vielen Indikatoren sind und man deswegen nicht schwarz malen muss, habe ich in einem Artikel für heute.de analysiert (Deutsche Forschung "spitze in der Breite").

Noch eine Erläuterung zum Diagramm: Wie man an der Gesamthöhe der Säulen sofort sieht, schwankt die Gesamtzahl der Preisträger (bzw. der mit Preisen bedachten Nationen) pro Jahrzehnt deutlich. Das hat eine Reihe von Gründen:
  • Preise können aufgeteilt werden - gerade in Physik oder Chemie gibt es deshalb oft, aber nicht immer, drei Preisträger pro Jahr
  • bedingt durch die Weltkriege wurden Preise teilweise nicht vergeben
  • wie oben erwähnt zählen Preisträger mit doppelter Staatsangehörigkeit hier doppelt, einmal für jedes Land
  • andere Preisträger fallen aus der Darstellung heraus, weil sie sich keinem Land zuordnen lassen (vor allem gilt das für internationale Organisationen, die ja öfter mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden)
  • der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften wird erst seit 1969 vergeben.  

Feedback erwünscht

Und schließlich eine Anmerkung in eigener Sache: Dies ist mein erster echter Versuch in Richtung Datenjournalismus, auch wenn ich das Thema seit längerer Zeit interessiert verfolge. Bin deshalb an Feedback aller Art interessiert! Nutzt also gerne die Kommentarfunktion oder mailt mir direkt (Adresse steht auf meiner Homepage).